Coder unter Druck: Die neue Realität der Softwareentwicklung im KI-Zeitalter
Seit 2001 bewege ich mich nun schon in der Welt des Web Developments. Ich habe Browser kommen und gehen sehen, Frameworks aufsteigen und sterben sehen. Aber keine technologische Veränderung hat meinen Arbeitsalltag – und wohl den vieler Kollegen – so fundamental und rasant verändert wie die generative Künstliche Intelligenz.
Heute möchte ich mit euch über ein Gefühl sprechen, das sich in unserer Branche breit macht: Druck. Und darüber, wie wir verhindern, dass wir in der Begeisterung für die neuen Möglichkeiten die Bodenhaftung verlieren.
Die Entwertung des “Handwerks”
Nie war es einfacher, “guten Code” schneller und effizienter generieren zu lassen. Das ist auf der einen Seite fantastisch. Auf der anderen Seite führt es dazu, dass gewissenhaftes, manuelles Coding gefühlt immer stärker entwertet wird.
Das spüren wir auch im Umgang mit Kunden. Da viele Auftraggeber mittlerweile selbst mit ChatGPT und Co. experimentieren, geht oft der Bezug zur eigentlichen Leistung eines echten Coders verloren. Die Erwartungshaltung steigt: “Das kann die KI doch in Sekunden”, ist ein Gedanke, der oft unausgesprochen im Raum steht.
Aber hier liegt der Trugschluss. Die KI liefert Rohmaterial. Die Verantwortung für das Gesamtergebnis, die Sicherheit und die Zufriedenheit des Endkunden nimmt mir keine KI ab.
Verantwortung ist nicht delegierbar
Wenn ein Projekt gegen die Wand fährt, ist es der KI schlichtweg egal. Sie fühlt keine Reue. Wir kennen alle diese Antworten unserer digitalen Assistenten:
“Du hast absolut Recht, diesen Logikfehler habe ich übersehen! Hier ist die korrigierte Version…”
Das liest sich nett, hilft mir aber nicht, wenn der Fehler bereits im Live-System Schaden angerichtet hat. Für das Ergebnis hafte ich persönlich.
Es ist ein gefährlicher Trend, Verantwortung an einen Algorithmus abgeben zu wollen, der keine Konsequenzen fürchten muss.
Auch das Testen bleibt – Stichwort “Betriebsblindheit” – allein in unserer Verantwortung (ein riesiges Thema, das einen eigenen Artikel verdient hätte).
Das Paradoxon der Effizienz und das große Schweigen
Es ist schon fast paradox: Einerseits hören wir Sätze wie “Mach nicht zu viel mit KI, dann bist du effizienter – so wie früher.” Andererseits treibt uns der Zeitdruck genau dazu, Aufgaben an die KI zu delegieren.
IMO: Wenn ich an “früher” denke, war es keineswegs immer schneller oder effizienter. Aber es war überschaubarer. Es fühlte sich “wertiger” an, die Arbeit war auf mehrere menschliche Säulen verteilt. Heute neigen wir dazu, aus Zeitnot Aufgaben blind zu übertragen. Und nicht selten endet das an dem Punkt, an dem sich die KI völlig verzettelt hat und wir das Chaos aufräumen müssen.
Dazu beobachte ich ein spannendes Phänomen: Viele Coder geben nur ungern zu, dass die KI diverse Aufgaben für sie übernommen hat. Es wirkt fast so, als wäre es etwas Unanständiges, sich helfen zu lassen. IMO ist dieses Schweigen bereits eine unbewusste Abwehrreaktion gegen die drohende Entwertung. Wir wollen den Status des “echten” Handwerks wahren, aus Sorge, dass unsere Leistung sonst als trivial abgetan wird.
Die Gefahr der “Black Box”
“Zur Not hilft die KI” ist ein gefährlicher Ansatz. Bei kleineren Jobs, wie dem Erstellen eines Layout-Gerüsts oder einer kleinen Funktion, mag das stimmen. Aber wenn wir in den Untiefen einer komplexen Codebasis operieren, kann blinder KI-Einsatz unabsehbare Folgen haben. Die KI kennt zwar Millionen Zeilen Code, aber niemals die menschliche Konsequenz am Ende der Kette.
Und egal wie gut der Code am Ende ist: Es glaubt eh jeder, dass das Werk mit Hilfe der KI entstanden ist. Das ist die Entwertung, die ich meine. Nur die Idee selbst hat (noch) ihren unantastbaren Wert.
Ich erkenne diese neue Realität voll und ganz an. Dennoch: IMO schwingt manchmal ein leises Bedauern mit, dass “unserer Hände Arbeit” gefühlt weniger Wertschätzung erfährt als früher. Das ist keine Kritik am Fortschritt, sondern schlicht eine Beobachtung des Zeitgeistes. Wir befinden uns in einem Wandel, der nicht nur unsere Tools, sondern auch unser berufliches Selbstverständnis neu definiert.
Meine Tipps zum Umgang mit KI im Job
Damit wir Coder nicht unter die Räder kommen, habe ich mir über die Zeit ein paar Regeln auferlegt. Mein Leitsatz dabei ist simpel:
“Arbeiten kann die KI, Denken solltest Du!”
Hier sind meine Best Practices für einen gesunden Workflow:
1. Planung ist alles (und die Stärke der KI)
Organisiere große, komplexe Aufgaben vor Beginn stets in klar strukturierten Markdown-Files (_briefing.md, _plan.md, _tasks.md). Das zwingt dich – mit oder ohne KI – dazu, dein Projekt so genau wie möglich zu planen. Hier liegt übrigens eine der größten Stärken generativer KI: Sie kann beim Planen helfen, ohne Code kaputtzumachen.
2. Konservatives Prompting
Lieber einmal zu viel “Analysiere erst, CODE NOCH NICHT” schreiben als einmal zu wenig. Ergänze deine Prompts stets mit: “Agiere sehr konservativ. Rate nicht und halte dich an Best Practices.” Das ist bei großen Codebasen überlebenswichtig.
3. Feature-Branches und Etappenziele
Arbeite, besonders mit KI-Unterstützung, immer in Feature-Branches (Git). Checke jede komplettierte Etappe ein. Sollte sich die KI verzetteln (und ja das kann sie!), kannst du die Updates einfach verwerfen (“discarden”). Die “guten” Zwischenstände bleiben erhalten.
4. Dokumentation generieren lassen
Lass dir zu jeder größeren Änderung ein entsprechendes MD-File generieren, das das Update erklärt. Das hilft dir, deinen Kollegen und ist perfekt für das GitHub Issue.
Pro-Tipp: Lass Legacy-Code von der KI analysieren und eine fancyFeature.md direkt neben der fancyFeature.ts erstellen. Das Verständnis des Codes ist oft wertvoller als neuer Code.
5. Kleine Schritte statt Riesensprünge
Auch wenn es verlockend ist: Weise die KI an, nur eine Etappe einer Gesamtaufgabe anzugehen. Wenn der Überblick einmal weg ist, ist er weg.
6. Die “Dulli-Arbeit” abgeben
Nutze die KI für das, was sie gut kann: Try/Catch-Blöcke, Loops, Boilerplate-Code. Das muss man heute nicht mehr händisch tippen. Wenn du KI in deiner IDE nutzt, “missbrauche” Kommentare als Prompt. Die Auto-Completion erledigt den Rest meist zuverlässig.
7. Code kommentieren lassen
Lass dir generierten Code immer kommentieren. Das zwingt die KI zur Selbstreflexion und hilft dir beim Review (Claude setzt übrigens gerne lustige Emojis dazu 🤖).
8. Lass dich beraten
Gib deinem KI-Assistenten die Möglichkeit, dir Tipps zu geben. “Kann ich das besser/robuster machen?”, “Kann ich das effizienter machen?”, “Kann ich das präziser formulieren?”. Die KI “kennt” das Weltwissen und hat besonders in punkto “best practices” viel zu bieten. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Code ist besser, die Dokumentation ist klarer und du lernst dabei.
Fazit
Wir sollten den Einsatz generativer KI beim Coden weder über- noch unterschätzen. Sie ist ein Bug-Finder, ein Stichwortgeber, ein Code-Erklärer und jemand, der lästige Tipparbeit übernimmt.
Aber: Lass dir nichts schreiben, was du nicht auch hättest selbst schreiben können. Verstehe, was da passiert. Denn am Ende bist du derjenige, der dafür gerade steht.
Bleibt neugierig, aber kritisch!
Hinweis: Dieser Beitrag spiegelt meine persönliche Meinung wider und stellt keine Rechtsberatung dar.
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Tobias Gerlach
KI, Webentwicklung und digitale Souveränität. Ich baue Brücken zwischen komplexer Technologie und praktischer Anwendung.
Battle proof Web Developer since 2001.
Jede Welle gesehen – und immer noch da.